Newsletter Oktober 2023

Mitbestimmung ist bei Neuzuordnung in der Teamzuordnung nach §§ 99, 95 Abs.3 BetrVG auch dann gegeben, wenn die betroffene Beschäftigte zustimmt

LAG Thüringen 9.5.2023 – 1 TaBV 5/22


Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie und stellt Scheinwerfer her. Am Standort sind ca. 900 Beschäftigte tätig. Die Produktion ist – wie der gesamte Betrieb – in Abteilungen untergliedert, die wiederum aus unterschiedlichen Teams bestehen. Zu den Aufgaben der Teamleiter gehört unter anderem die Entscheidung über Urlaubsanträge sowie das Führen von Krankenrückkehrgesprächen.

Im Jahr 2019 änderte die Arbeitgeberin die Teamzuordnung, ohne den Betriebsrat miteinzubeziehen. Hiervon war auch eine Beschäftigte, die vor der Neuzuordnung als Produktionsversorgerin im Team H der Vorfertigung tätig war. Danach war sie ebenfalls in der Vorfertigung im Team I tätig, und zwar mit denselben Aufgaben. Da der Betriebsrat zu dieser Maßnahme nicht beteiligt wurde, hat er sein Mitbestimmungsrecht eingefordert. Die Arbeitgeberin nahm die Versetzung nicht zurück, beantragte beim Betriebsrat im Nachhinein die Zustimmung zur Versetzung und begründete diese damit, dass die betroffene Beschäftigte einverstanden sei.

Der Betriebsrat hat beim Arbeitsgericht die Aufhebung der Versetzung gem. § 101 BetrVG beantragt. Die Arbeitgeberin hat diesen Anspruch versucht zurückzuweisen und dies damit begründet, die Tätigkeit der betroffenen Beschäftigten habe sich nicht geändert. Ferner übten die Teamleiter keine Vorgesetztenfunktion aus. Diese Argumentation ließ das LAG nicht gelten und gab dem Betriebsrat recht.

Es begründet seine Entscheidung damit, dass vorliegend von einer Versetzung auszugehen sei und nimmt dabei die Rechtsprechung des BAG in Bezug (BAG 17.6.2008 – 1 ABR 38/07; 10.4.1984 – 1 ABR 67/82). Eine solche sei immer dann anzunehmen, wenn von der Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs auszugehen sei. Dies sei wiederum immer dann gegeben, wenn sich das Gesamtbild der bisherigen Tätigkeit so verändert, dass die neue Tätigkeit vom Standpunkt eines mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Beobachters anzusehen sei. Dies setze nicht notwendig eine Veränderung der tatsächlichen Tätigkeiten voraus. Vielmehr könne dies auch gegeben sein, wenn bei unveränderter Tätigkeit diese mit anderen Kollegen ausgeübt werden müsse oder die Aufgaben innerhalb einer anderen Arbeitsorganisation zu erbringen sei. Hierfür könne maßgeblich sein, dass es eine andere Leitung mit relevanten arbeitsrechtlichen Weisungsbefugnissen gebe. Dies sei vorliegend gegeben, denn allein die Zuordnung zum neuen Team führe zu einer anderen Zusammensetzung der Kolleg:innen, so dass bereits dies zu andersartigen Arbeitsprozessen führe. Außerdem seien die arbeitsrechtlichen Befugnisse der Teamleiter so relevant, dass davon auszugehen sei, dass die jeweiligen Teams jeweils eigene organisatorische Einheiten darstellten.

Vorliegend ist eine Versetzung auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil die betroffene Beschäftigte mit dieser einverstanden sei. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG dient nicht allein dem Schutz der betroffenen Beschäftigten, sondern hat auch den Schutz der gesamten Belegschaft im Blick. Der Wechsel einer einzelnen Beschäftigten könne sich sowohl auf die abgebende als auch auf die aufnehmende Einheit auswirken, weshalb es nicht gerechtfertigt ist, eine Versetzung immer dann auszuschließen, wenn die betroffenen Beschäftigten mit dieser einverstanden sind. Der Betriebsrat sei auch in solchen Fällen der Zustimmung durch die Beschäftigten immer zu beteiligen. 



Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung während der Kündigungsfrist

LAG Mecklenburg-Vorpommern 13.7.2023 – 5 Sa 1/23


Ein Beschäftigter eines Krankenhauses in gehobener Stellung kündigte nach einer mehrjährigen Tätigkeit sein Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der für ihn geltenden Kündigungsfrist von sechs Monaten. Das Arbeitsverhältnis endete am 28.2.2022. Er war bei diesem Arbeitgeber Wochenpendler, d.h. er wohnte in Süddeutschland, wo er seine Freizeiten verbrachte, und war unter der Woche in Rostock, wo er arbeitete. Nach Ausspruch seiner Eigenkündigung arbeitete er zunächst weiter, erkrankte aber an einzelnen Tagen ohne erkennbaren Rhythmus. Am 9.2.2022 nahm der Kläger zunächst seine Tätigkeit auf; da er aber erhebliche Rückenschmerzen mit stechenden Schmerzen hatte, meldete er sich bei der Arbeitgeberin krank, fuhr dann in der 1. Klasse mit der Bahn zu seinem Wohnort. Die Fahrt dauerte ca. 10 Stunden. Am Folgetag schrieb ihn sein Hausarzt für die Zeit vom 9.2.2022 bis einschließlich 21.2.2022 arbeitsunfähig. Ab 22.2.2022 hatte er dann Urlaub, der vor seiner Arbeitsunfähigkeit bereits vereinbart und genehmigt war.

Die Arbeitgeberin behielt für die Zeit vom 9.2.2022 bis 21.2.2022 das Arbeitsentgelt ein, weil sie bestritt, dass der Kläger in dieser Zeit krank gewesen sei. Dies ergebe sich schon daraus, dass wenn er tatsächlich am 9.2.2022 krank gewesen sei, er die 10-stündige Fahrt nach Hause nicht hätte antreten können. Auffällig sei ferner die zeitliche Lage der Arbeitsunfähigkeit, die genau mit dem Urlaubsbeginn zusammenfalle.

Das LAG hat der Klage – wie auch die Vorinstanz – stattgegeben und dem Kläger die geltend gemachte Vergütung zugesprochen. Es begründet dies damit, dass die Beklagte den hohen Beweiswert, der einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung innewohne, nicht erschüttern konnte. Der Beweiswert sei nur dann erschüttert, wenn belastbare Tatsachen vorliegen, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit belegen. Zwar könnten sich aus den zeitlichen Zusammenhängen zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeit solche Zweifel begründen, etwa dann, wenn ein Beschäftigter zeitgleich mit dem Ausspruch der Eigenkündigung für die Dauer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsunfähig erkranke (so etwa BAG 8.9.2021 – 5 AZR 149/21). Dies könne aber nicht ohne weiteres für die Fälle gelten, in denen die Arbeitsunfähigkeit erst im Verlauf der Kündigungsfrist eintreten, und zwar auch dann nicht, wenn diese gegen Ende der Kündigungsfrist eintreten. Es mag zwar sein, dass in der Ablösephase die Motivation der Beschäftigten nachlasse, der Tätigkeit nachzugehen. Hieraus könne aber keinesfalls geschlossen werden, dass jede Arbeitsunfähigkeit während der Kündigungsfrist makelhaft sei. Dies gelte vorliegend umso mehr, als dass der Kläger vorgetragen habe, die Arbeitsunfähigkeit auf eigenen Wunsch nur bis zum bereits erteilten Urlaub ausgestellt zu erhalten.

Auch der Umstand, dass der Kläger eine 10-stündige Bahnfahrt habe absolvieren können, lasse den Beweiswert nicht anzweifeln. Die vom Kläger dargestellten Schmerzen sprächen nicht gegen die Möglichkeit trotz Arbeitsunfähigkeit, die lange Reise zum Hausarzt aufzunehmen. Die Symptome ließen nicht auf eine solche Situation schließen, dass der Kläger sich vom Notarzt hätte behandeln oder in einer Klinik aufnehmen lassen müssen. 



Die Ausübung einer in einem Prozessvergleich vereinbarten Turbo-Klausel bedarf der Schriftform

LAG Mecklenburg-Vorpommern 9.5.2023 – 2 Sa 146/22


Dem Kläger wurde eine außerordentliche und hilfsweise ordentliche Kündigung ausgesprochen, gegen die er Kündigungsschutzklage erhoben hatte. Im Rahmen des Verfahrens einigte sich der Kläger darauf, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund der ordentlichen Kündigung mit Ablauf der mehrmonatigen Kündigungsfrist enden solle und er für die Dauer der Kündigungsfrist bezahlt von seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit freigestellt wird. Ferner wurde vereinbart, dass dem Kläger das Recht eingeräumt wird, jederzeit vor Ablauf der Kündigungsfrist das Arbeitsverhältnis durch einseitige Erklärung vorzeitig zu beenden. Für diesen Fall der vorzeitigen Beendigung wurde eine Abfindungszahlung in Höhe der ersparten Vergütung vereinbart.

Der Kläger entschied sich für eine vorzeitige Beendigung, die sein Rechtsanwalt gegenüber der Arbeitgeberin in elektronischer Form mittels beA (besonderes elektronischen Anwaltspostfach). Im Anschluss an diese Kündigungserklärung verlangte der Kläger die Abfindungszahlung, die die Arbeitgeberin jedoch verweigerte. Die Zahlungsklage hat der Kläger nun verloren.

Das LAG argumentiert damit, dass der Kläger sein Arbeitsverhältnis nicht wirksam beendet habe. Auch das vorzeitige Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis im Rahmen von Turbo- oder Sprinterklauseln sei eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses sehe § 623 BGB die Schriftform vor. Von dieser gesetzlich vorgesehenen Schriftform können die Vertragsparteien nicht abweichen, denn das BGB sehe keine Öffnungsklausel oder Ausnahmen vor. Die Versendung eines Anwaltsschriftsatzes über das beA erfülle diese Schriftform aber gerade nicht, denn eine Unterschrift bedürfe es nicht. Aber selbst, wenn eine Unterschrift enthalten sei, sei diese nur eine Kopie der Unterschrift, denn die Dokumente werden in der Regel im PDF-Format oder ähnlichem Format übermittelt.

Anmerkung für Betriebsräte: Auch wenn solche Turbo-Klauseln im Rahmen von Aufhebungsverträgen oder im Rahmen von Sozialplänen oder anderen Betriebsvereinbarungen geregelt werden, muss für die konkrete Umsetzung immer die Schriftform eingehalten werden. Daher sollten dies nicht nur in den Sozialplänen ausdrücklich geregelt werden, sondern die Betriebsräte die Kolleg:innen immer entsprechend beraten.



Höchstabfindung im Rahmen eines Sozialplans und Vereinbarung eines Schwerbehindertenzuschlags

BAG 11.10.2022 – 1 AZR 129/21


Der Kläger begehrt von der Arbeitgeberin die Gewährung einer höheren Abfindung. Hintergrund hierfür ist, dass dem Kläger im Rahmen einer Betriebsänderung eine betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen wurde. Zwischen den Betriebsparteien wurde ein Sozialplan abgeschlossen, der Abfindungsleistungen vorsieht, die sich aus einer Formel ergeben, die das Lebensalter, die Betriebszugehörigkeit und das Bruttomonatsentgelt berücksichtigen. Ferner sind Sozialzuschläge für Kinder in Höhe von jeweils 1.500,00 € und für eine Schwerbehinderung in Höhe von 2.000,00 € vorgesehen. Es wurde zudem eine Höchstabfindung in Höhe von 75.000,00 € vereinbart.

Der Kläger ist schwerbehindert. Bereits aufgrund seines Lebensalters und seiner Betriebszugehörigkeit hatte er einen Abfindungsanspruch aus der Formel, der den Höchstbetrag überstieg. Mit seiner Klage begehrt er nun die Zahlung des Schwerbehindertenzuschlags in Höhe von 3.000,00 € als zusätzlichen Abfindungsanspruch. Die Arbeitgeberin lehnte dies ab und begründete dies damit, dass die Vereinbarung eines Höchstabfindungsbetrags zulässig sei, um die begrenzten Mittel für den Sozialplan fair zu verteilen. Der Kläger sieht in der Einbeziehung des Schwerbehindertenzuschlags in den Höchstbetrag eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung.

Das BAG hat nun dem Kläger recht gegeben. Es begründet dies mit einer Diskriminierung des Klägers, die nicht gerechtfertigt ist. Die Betriebsparteien haben bei Aufstellung des Sozialplans zwar einen weiten Ermessensspielraum, den sie dazu nutzen sollen, die entstehenden Arbeitsmarktrisiken für die betroffenen Beschäftigten angemessen zu berücksichtigen. Dabei dürfen sie auch Höchstbeträge vereinbaren, da diese geeignet sind, die immer begrenzt zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel auf alle Betroffenen zu verteilen. Denn ohne solche Höchstbeträge könnte dies dazu führen, dass die Sozialplanmittel ausschließlich auf die älteren Beschäftigten mit langen Betriebszugehörigkeiten sowie diejenigen mit höheren Vergütungen ausgeschüttet werden. Allerdings dürften die Verteilungskriterien nicht zur Folge haben, dass diese zu einer Diskriminierung führen. Vorliegend haben die Betriebsparteien zu Recht einen Schwerbehindertenzuschlag vereinbart, der das erhöhte Arbeitsmarktrisiko dieser Beschäftigten besonders berücksichtigen soll. Durch die Einbeziehung dieses Zuschlags in den Höchstbetrag wird jedoch der Kläger als älterer schwerbehinderter Beschäftigter gegenüber den jüngeren Schwerbehinderten benachteiligt. Denn die jüngeren schwerbehinderten Beschäftigten haben aufgrund ihrer in der Regel geringeren Betriebszugehörigkeit und des niedrigeren Lebensalters meist einen geringeren Abfindungsbetrag aus der Formel zu beanspruchen und können daher in der Regel zusätzlich den besonderen Zuschlag beanspruchen. Ältere schwebehinderte Beschäftigte haben jedoch regelmäßig Abfindungssummen aus der Formel, die den Höchstbetrag übersteigen, da diese in der Regel länger beschäftigt sind und zudem älter sind. Dies bedeutet, dass die Älteren damit nicht von dem Schwerbehindertenzuschlag profitieren, obwohl die Betriebsparteien für diese Beschäftigtengruppe ein erhöhtes Arbeitsmarktrisiko gesehen haben. Dies könne nur dadurch aufgelöst werden, dass der Schwerbehindertenzuschlag nicht auf den Höchstbetrag angerechnet werde.

Regina Steiner
Silvia Mittländer
Erika Fischer

Fachanwältinnen
für Arbeitsrecht

Große Friedberger Straße 42
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